Wow, wie die Zeit verfliegt. Erst letzte Woche ist mir bewusst geworden, dass mein erstes Graphic Recording ziemlich genau 10 Jahre zurückliegt. Vielleicht kam der Impuls zur Rückschau auch durch den Besuch bei einem Kunden mit dem ich fast seit Anfang an zusammenarbeite und der jedes Jahr ein großes Event in Wien organisiert bei dem ich die Inhalte mit Graphic Recording festhalte. Bisher fanden die Vorbesprechungen dazu nicht in der Zentrale statt. Heuer war ich zur Vorbesprechung des Events zum ersten Mal vor Ort und staunte nicht schlecht, als ich an den Wänden alle Graphic Recordings der letzten Jahre hängen sah. Über 20 Meter Zeichnungen und Texte haben sich da mittlerweile angesammelt. Fast wie eine Ausstellung - meine Ausstellung, von der ich bisher nichts wusste. Ich bekam eine Führung und hatte einen ganzen Blumenstrauß an Emotionen beim Revue passieren lassen der vergangenen Veranstaltungen. Und in den bunten Mix aus Gefühlen mischten sich auch einige Erkenntnisse. Diese will ich mit euch teilen.
Doch fangen wir am Anfang an. Bei meinem ersten Graphic Recording. Begleitet mich von den ersten Schritten zu so manchen Sackgassen und neuen Wegen, die ich im laufe der Jahre eingeschlagen habe.
Mein erstes Graphic Recording machte ich noch bevor ich das Wort dafür kannte, was ich da eigentlich tat. Ich habe zuvor schon jahrelang Seminare und Workshops, die ich gehalten habe, visuell dokumentiert. Die so entstandenen Flipchartprotokolle erfreuten sich bei den Teilnehmer:innen großer Beliebtheit und ich wurde auch von Trainer-Kolleg:innen immer wieder darauf angesprochen was, wo, wie ich da genau mache. So kam es, dass ich anfing Workshops für andere Trainer:innen zu geben in denen ich mein Wissen zum Thema Flipchartgestaltung teilte.
“Wir planen ein großes Event - würdest du uns begleiten und mitzeichnen?”
Diese Frage wurde mir bei einem jener Workshops gestellt. Und ich habe das gemacht, was ich bei allen neuen Türen mache, die sich mir öffnen und die spannend aussehen: ich habe mit Begeisterung "Ja!" gesagt. Und bald festgestellt: ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da eingelassen habe.
Das besagte Event sollte von mir und einem zweiten Zeichner auf Whiteboards dokumentiert werden. Diese Wände waren riesig und ich hatte zu dem Zeitpunkt nur wenig Erfahrung mit der Arbeit am Whiteboard. Heute sind mir die damals entstandenen Bilder ein bisschen peinlich, weil mein Zeichenstil noch sehr viel Potenzial hatte (um es freundlich zu formulieren). Aber ich schaue mir die Bilder nach wie vor gerne an, denn ich habe bei dem Projekt mehrere wichtige Lektionen gelernt:
Tus nicht. Du wirst kein gleichmäßiges Ergebnis zustande bringen und lediglich viel Zeit damit verschwenden es zu versuchen. Die Lösung heißt: Muster. Damit sparst du dir viel Zeit und Nerven. Und das Ergebnis schaut besser aus. Allgemeiner formuliert: manchmal geht es nicht darum, mit viel Fleiß und Sturheit etwas erzwingen zu wollen, was nicht will (mehr vom Selben); sondern einzusehen, dass man neue Techniken braucht. Dann heißt es recherchieren oder experimentieren bis man einen Weg gefunden hat, der bessere Resultate liefert.
Die Frage, auf die ich damals noch keine Antwort hatte: Wie schnell zeichne ich wirklich? Es ist sehr wichtig, die eigene Zeichengeschwindigkeit zu kennen und sich nicht mehr vorzunehmen, als man in der verfügbaren Zeit tatsächlich auch bewältigen kann. Was ich seither gelernt habe: Je besser man sich und seine Stärken und Schwächen kennt, desto besser kann man abschätzen wie man mit einer Situation umgehen kann und wie man das bestmögliche Ergebnis erzielt.
Während dem Event fiel das Wort “Graphic Recording” (als Beschreibung dessen was ich da tue) und mir tat sich plötzlich ein ganzes Universum auf. Ich habe sofort recherchiert, was es zu dem Thema online zu finden gibt. Damals war das leider noch nicht allzu viel und die meisten Berichte kamen aus Amerika, wo die Technik schon etwas verbreiteter war. Eines war mir dennoch schnell klar: das live Protokollieren von Inhalten ist eine großartige Methode um Teilnehmer:innen das Verstehen und Merken von komplexen Inhalten zu erleichtern und Diskussionen anzuregen. Darüber hinaus vereint Graphic Recording mehrere Dinge, die ich großartig finde:
Dem einen Event folgten viele weitere Graphic Recordings. Dadurch, dass meine Arbeit sehr öffentlich ist (bei jedem Event sehen viele Personen, was ich tue), hat sich meine neue Tätigkeit schnell rumgesprochen.
Es gab viele schöne Erlebnisse: tolle Events, die ich begleiten konnte, spannende Menschen, die ich treffen durfte, interessante Inhalte zu einer großen Bandbreite an Themen mit denen ich sonst vielleicht nie in Kontakt gekommen wäre (Medizin, Physik, Wirtschaft, Kunst, Finanzen, Raumplanung, Industrie, Kultur, Didaktik und viele mehr) und viele Orten, die ich kennengelernt habe.
Aber es gab auch das eine oder andere Hoppala. Situationen, die mich forderten, wo ich nachträglich noch lange gegrübelt habe was ich hätte besser oder zumindest anders machen können und bei denen ich merkte, dass ich noch lange nicht am Ende meiner Graphic Recording Reise angekommen bin. Hier ein paar der Highlights aus der Liste an Sachen, die ich gelernt habe:
Wenn es schnell gehen muss, die Inhalte nur kurz oder in einem besonders hohen Tempo präsentiert werden, ist nicht der richtige Zeitpunkt um sich dem Zeichnen von Portraits zu widmen. Diese können aber ohne weiteres vorbereitet werden. So spart man sich viel Zeit vor Ort, die man in das Festhalten der Inhalte investieren kann.
An Farbe, die nach einem Event aus mir unerfindlichen Gründen IMMER an mir und meiner Kleidung zu finden ist, habe ich mich schnell gewöhnt. Farbe an Wänden oder Böden von Locations ist jedoch nicht akzeptabel für mich. Lange Recherchen und Ausprobieren (an meiner armen Wohnzimmerwand) waren nötig, um die richtige Kombination von Papier, Stiften und Befestigungsmaterial zu finden, die keine Spuren hinterlassen. (mehr dazu hier)
Fürs Zeichnen braucht man Platz (für das Papier, das Material und mich). Und dieser sollte von Anfang an eingeplant werden. Es ist sehr ärgerlich, wenn Teilnehmer:innen leere Kaffee- oder Teetassen auf dem Stehtisch abstellen, der für das Zeichenmaterial gedacht ist. Es ist aber nicht böse gemeint, sondern ein Zeichen dafür, dass nicht klar ersichtlich war, dass dieser Platz ein “Arbeitsplatz” ist und auch als solcher behandelt werden will. Es ist die Aufgabe des:der Graphic Recorder:in sich diesen Platz zu schaffen.
Eines der schrägsten Erlebnisse das ich beim Graphic Recording je hatte, war im Wiener Rathaus. Dort zeichnete ich bei einer Veranstaltung für Kinder. Es gab Feen, Drachen und jede Menge Fabelwesen, die auf Wunsch der Kleinen und Kleinsten im Graphic Recording verewigt wurden. Als ich einmal vom Zeichnen aufblickte, staunte ich nicht schlecht, als ich eine Mutter mit ihrem (geschätzt keine zwei Jahre alten) Kind entdeckte, das fröhlich am Arm der Mutter seinen bleibenden Beitrag zum Graphic Recording leistete. Lange Zeit war mir nicht klar, wie jemand auf die Idee kommen kann ein Kleinkind “mitmalen” zu lassen.
Auch wenn ich schon immer sehr kritisch mit meinen Zeichenkünsten war, dass das Bild nicht von Kleinkindern gezeichnet wurde, war meiner Ansicht nach sehr wohl ersichtlich. Erst viele Jahre nach dem Vorfall wurde mir bewusst, dass das “mitmachen” keine Beleidigung meiner Zeichenkünste war sondern ein Ausdruck der Freude am Gestalten. Sie wollten “mitmachen”. Und das ist ein guter Impuls. Dort wo es möglich ist und Sinn macht, sollte daher immer ein Raum geschaffen werden, der es auch den Teilnehmer:innen erlaubt sich aktiv einzubringen. Sei es in Form von Post-its auf denen sie Ideen beisteuern können, Vorlagen für Flipcharts und Pinnwand, die sie befüllen können, oder Icons, die sie aussuchen und anheften können.
Nicht selten wurde ich als ”unsere Künstlerin” vorgestellt. Ich war oft gleichermaßen geehrt und verwirrt. Künstlerin schien mir so ein großes Wort zu sein, dem ich meiner Ansicht nach nicht gerecht wurde. Ich stand schließlich nicht in einem Atelier wo ich eimerweise Farbe auf Raumhohe Staffeleien goss oder in wochenlanger Arbeit Ölgemälde erschuf (ja… das war eine Zeit lang meine Idee von Kunst). Es hat eine ganze Zeit lang gedauert, bis ich begriff, dass Kunst etwas ist, dass nicht ein paar wenigen Auserwählten vorbehalten ist. Heute hat Kunst für mich etwas damit zu tun, etwas zu erschaffen. Und das tue ich. Das tuen weit mehr Leute als es deklarierte “Künstler” gibt.
Oft wurde ich auch gefragt “Wie machst du das?”. Da ich mit einem Stift neben einem großen Bogen Papier stand, vermutete ich, dass die Frage nicht mit “ich schreibe und zeichne, was ich höre” ausreichend bentwortet ist. Das lag ja irgendwie auf der Hand. Ich ging in mich. Was genau passiert beim Graphic Recording? Irgendwann wurde mir bewusst, dass Graphic Recording nicht nur eine kreative, sondern zu einem entscheidenden Teil auch eine kognitive Tätigkeit ist. Ja klar, je besser man zeichnen kann, desto schöner wird das Ergebnis. Und Übung zahlt sich definitv aus (bei allem im Leben). Das Zeichnen sieht man. Der Teil, den man nicht sehen kann, ist der, der passiert noch bevor ich den Stift ansetze. Im Grunde sind es vier Schritte. Drei davon passieren vor dem Zeichnen:
Erst danach folgt das Übersetzen (in Bilder und Metaphern). Was ich also tue ist ein vierstufiger Prozess von dem nur der letzte Teil von außen beobachtbar ist.
Erinnert ihr euch noch an den Kunden, den ich neulich besucht habe und bei dem ich eine Führung duch die Gallerie meiner Graphic Recordings bekommen habe? Diese Bilder will ich mit euch teilen. Ich finde man kann daran besonders gut sehen, wie sich mein Stil mit der Zeit entwickelt hat und wie ich neue Sachen ausprobiert habe. Einige davon habe ich langfristig beibehalten und andere wieder verworfen. Seht selbst:
Was hat (neben viel Übung, die es wie wir alle wissen eh immer braucht) meiner Meinung nach meine Graphic Recordings langfristig verändert? Nun, es gibt ein paar Sachen, die ich meinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben würde, wenn es irgendwann die Möglichkeit gibt Botschaften in die Vergangenheit zu schicken. Da ich nich ganz sicher bin wie lange das dauert - hier für euch meine wertvollsten Aha-Momente:
Durch Schattierung wirken Illustrationen viel plastischer und spannender. Es kostet zwar etwas Zeit den Bildern diesen letzten Touch zu verleihen aber meiner Meinung nach zahlt es sich immer aus, diese Extrameile zu gehen.
Der Wechsel von Stift und Papier zum Grafik-Tablet war einer gegen den ich mich eine Zeit lang gesträubt habe. Erst Corona und damit der Wechsel von vielen Veranstaltungen zum digitalen Format (Webinar statt live Event) hat mich endgültig von den vielen Vorteilen des digitalen Graphic Recordings überzeugt (mehr dazu hier). Heute gibt es zum Glück wieder live Veranstaltungen. Das iPad ist mir allerdings geblieben. Auch wenn es hier und da noch ein Event gibt, für das ich mich (in Abstimmung mit den Kund:innen) dafür entscheide Papier zu nutzen, so sind analoge Graphic Recordings mittlerweile doch deutlich die Ausnahme.
Das perfekte Zuhause für meine digitalen Arbeiten - vor, während und nach dem Event bietet die Plattform recapsy.com. Hier kann ich schon vor der Veranstaltung die Eckdaten des Events, meine Kontaktdaten und die des:der Veranstalter:in eintragen. Vor Ort können die Teilnehemer:innen dann per QR Code live die gezeichneten Bilder aufrufen, teilen und kommentieren. Und das Beste: nach dem Event liegt automatisch ein Seminarbericht vor - sowohl als Website als auch als downloadbares .pdf Dokument. Ein wahrer Game-Changer.
Mittlerweile sehe ich Graphic Recording als so viel mehr als nur das bunte Bild, das live bei der Veranstaltung entsteht. Das Ziel ist die Themen, die bei der Veranstaltung besprochen, präsentiert oder erarbeitet werden, in eine visuelle Form zu bringen, die das verstehen, merken, diskutieren und teilen der Inhalte ermöglicht. Und das kann viel mehr sein als nur das Graphic Recording live vor Ort. In meiner Werkzeugkiste liegen mittlerweile noch viele weitere Tools.
Ich glaube, dass die Reise noch lange nicht zu Ende ist. Alles ist stets im Wandel. Es wird immer neue Technologien, neue Anforderungen der Veranstalter:innen und neue Wünsche und Bedürfnisse der Teilnehmer:innen geben. Und für diese braucht es neue Konzepte und Lösungen. Ich freue mich jetzt schon darauf sie mit meinen Kund:innen zu entwickeln.